„Sankt Petersburg ist eine der schönsten Städte der Welt“ von Benjamin Bidder, Spiegel Online

Ein Besuch von Sankt Petersburg ist eine Reise, auf der man zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen kann. Der Fotograf Daniel Biskup hat die Stadt porträtiert – und ist glücklich nach Hause gekommen.

SPIEGEL ONLINE: Es fällt auf, wie viele Ihrer Aufnahmen den Newskij-Prospekt zeigen, die zentrale Straße Sankt Petersburgs. Was fasziniert Sie so daran?

Biskup: Das Publikum auf dem Newskij verändert sich mit der Tageszeit: Morgens sind die Alten dort, tagsüber die Geschäftsleute, nachts kommen die Jungen und die Straßenmusiker geben ihre Konzerte, im Sommer wie im Winter.

Die Leute gehen ganz bewusst auf die Straße, sie machen sich schick. Als Besucher fühlt man sich wie in einer Inszenierung. Aber es ist ein Stück, das die Menschen selbst inszenieren. Ich kenne keine Stadt, in der sich so viel auf einem so kleinen Raum abspielt.

 

Daniel Biskup am 06.04.2011 von Fabian Matzerath

Zur Person
Daniel Biskup, Jahrgang 1962, ist gelernter Postbote und einer der wichtigsten zeitgenössischen Fotojournalisten. Während der Wende 1989/1990 erlebte der Autodidakt seinen Durchbruch als Fotograf. Mit Unterstützung der Körber-Stiftung hat er seit 2010 immer wieder Fotos für ein Porträt von Hamburgs Partnerstadt Sankt Petersburg geschossen. Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution 1917 ist sein Bildband „St. Petersburg – Kontraste“ erschienen. Er kann beim Verlag Salz und Silber bestellt werden.



SPIEGEL ONLINE: Ist der Newskij nicht auch eine Fassade? Er ist herausgeputzt, eine Prachtmeile. Aber schon in den Seitenstraßen bröckelt der Putz, man fühlt sich zurückversetzt in die Achtzigerjahre.

Biskup: Das ist sogar schon in den Hinterhöfen der Häuser am Newskij so. Und es sind nicht die Achtzigerjahre, es sieht eher so aus wie in den Sechziger- oder sogar Fünfzigerjahren. Das macht einen Teil der Faszination aus: Ein Besuch von Sankt Petersburg ist eine Reise, auf der man zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen kann. Ein ganzes Jahrhundert ist noch gegenwärtig, Eindrücke der Zarenzeit, die kommunistische Herrschaft und das neue Russland. Das habe ich so noch in keiner anderen Stadt erlebt.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben insgesamt rund 60 Tage in Sankt Petersburg verbracht. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Biskup: Vielleicht zehn Prozent der Fotos sind vorbereitet, jemanden wie den Fußballstar Andrej Arschawin trifft man natürlich nicht einfach so. Ansonsten bin ich aber einfach losgelaufen. Das ist das, was meine Begleiter oft sehr entrüstet, weil ich oft stehen bleibe und fotografiere. Manchmal dauern 100 Meter Weg bei mir eine Stunde oder länger. Ich sehe etwas, ich komme mit den Menschen ins Gespräch, erzähle ihnen von meinem Buch und frage sie, ob ich sie dafür fotografieren könnte.

Ich weiß deshalb am Anfang des Tages nie, wo ich am Abend rauskommen werde. Manchmal ist das Licht bezaubernd, manchmal streift einen zufällig ein besonderes Bild, beispielsweise die nächtliche Party auf dem Newskij-Prospekt. Man wird immer belohnt. Jede Seitenstraße ist eine Entdeckung in Sankt Petersburg. Ich hätte auch zehn Bildbände füllen können.

 
Daniel Biskup:
St. Petersburg – Kontraste
Salz und Silber, 264 Seiten; gebunden; Englisch, Deutsch, Russisch;
39,50 Euro


SPIEGEL ONLINE: Im Begleittext zu Ihrem Bildband wird der „Mythos der Andersartigkeit Sankt Petersburgs“ beschrieben. Wie äußert sich dieses Anderssein?

Biskup: Die Menschen strahlen Gelassenheit aus. Sie wirken, als seien sie mit sich im Gleichgewicht, vielleicht ist es die Balance zwischen Leben und Arbeit – das fällt vor allen Dingen auf im Vergleich zum viel hektischeren Moskau. In Sankt Petersburg gibt es viele Menschen, die mit wenig zurechtkommen und damit glücklich sind.

SPIEGEL ONLINE: Hat Sankt Petersburg Sie auch verändert?

Biskup: Die Stadt verleiht einem zusätzliche Energie, weil man glücklich ist, dort zu sein. Das war im Sommer so, wenn es 24 Stunden lang nicht dunkel wird, aber auch im Winter, bei minus 20 Grad. Die eisige Kälte gibt einem das Gefühl, sich selbst besser zu spüren.

SPIEGEL ONLINE: Im kommenden Jahr ist Fußballweltmeisterschaft in Russland, Sankt Petersburg ist Spielort. Russland sorgt in jüngster Zeit aber vor allem für negative Schlagzeilen. Wie überzeugen Sie einen Russlandmuffel, dass sich eine Reise doch lohnt?

Biskup: Manchmal habe ich das Gefühl, vor allem bei Gesprächen in Deutschland, dass wir uns wieder im Kalten Krieg befinden. Viele fragen mich, warum ich dennoch immer wieder hinfahre. Ich glaube, trotz politischer Gegensätze ist es wichtig, selbst eigene Erfahrungen vor Ort zu machen. Die Menschen in Sankt Petersburg freuen sich wirklich über jeden Ausländer, den sie in der Stadt sehen, ob auf der Straße oder im Café. Sankt Petersburg ist eine der schönsten Städte der Welt. Und: Russland ist immer ein Abenteuer – man kann so viele Sachen neu entdecken und kommt bereichert wieder nach Hause.

SPIEGEL ONLINE: Der Ton zwischen Russland und dem Westen hat sich in den vergangenen Jahren verschärft, das russische Fernsehen macht viel Stimmung gegen Europa. Haben Sie keine Ressentiments zu spüren bekommen?

Biskup: Nur ein einziges Mal, als ich einen Mann am Rande der Feierlichkeiten aus Anlass des Endes des Zweiten Weltkriegs fotografieren wollte. Ich solle abhauen, hat er gesagt. Ansonsten können viele Russen nicht verstehen, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufgenommen hat. „Bei euch darf ja jeder von denen einfach so rein“, sagen sie. Es kränkt sie, dass russische Bürger noch immer aufwendig ein Visum für EU-Staaten beantragen müssen.

SPIEGEL ONLINE: Haben die Russen Europa nicht den Rücken gekehrt?

Biskup: Ich glaube nicht. Reisen nach Europa sind in Sankt Petersburg ein großes Thema. Das zeigt schon dieses Café in der Nähe des deutschen Konsulats. Es heißt Schengen.

 

– Quelle: http://www.spiegel.de/reise/staedte/sankt-petersburg-in-russland-jede-seitenstrasse-eine-entdeckung-a-1174457.html