Das Auge der Revolution von Katja Iken, Spiegel Online

„Welcome to hell!“ hat ein Graffiti-Sprayer in roter Schrift auf die Überreste des zerbombten, grauen Plattenbaus geschrieben, gleich davor liegt eine von Einschusslöchern übersäte, rostige Mülltonne auf dem Kopf. Keine zwei Schritte davon entfernt steht ein Mädchen mit braunen, langen Haaren und einer zu großen Jacke, fröstelnd, trotzig, zum Überleben entschlossen. Aufgenommen wurde das Foto 1994 im kriegsgebeutelten Sarajevo – von Daniel Biskup. „Das war nicht Afghanistan, das war Geschichte, die sich direkt vor unserer Haustür abspielte“, sagt der 47-Jährige – „da musste ich einfach hinfahren.“

Dass es zu jener Zeit lebensgefährlich war in den Straßen der belagerten bosnischen Hauptstadt, konnte seinen Drang, vor Ort zu sein, nicht bremsen. Ebenso wenig wie es die Gewalt im benachbarten Serbien, im Kosovo, in Mazedonien vermochte. Das Mädchen neben der umgestürzten Mülltonne in Sarajevo – es ist eines von Hunderten Schicksalen, die der Fotograf Biskup auf seinen Reisen durch das auseinanderberstende Jugoslawien, die zerbröselnde Sowjetunion und die untergehende DDR mit seiner wuchtigen Nikon F 3 dokumentiert hat.

Hier der blinde, einarmige Kriegsveteran in Bosnien, dort die aufgedonnerten Moskauer Partygängerinnen, da die kecke Sexshop-Verkäuferin aus Anklam: Mit seiner Linse fing Biskup in den neunziger Jahren die vielen Facetten des Umbruchs jenseits des früheren Eisernen Vorhangs ein, dokumentierte Elend, Tragödien und Verletzungen ebenso wie Protz, Stolz und Neubeginn. Der jetzt erschienene Bildband „Wege der Freiheit“ versammelt die eindringlichsten Aufnahmen dieses Stimmungs-Panoptikums.

„Man musste nur Nachrichten hören und losfahren!“

Dass die Menschen im Osten Europas zu den Protagonisten seiner Fotos wurden, ist kein Zufall: Die Mutter kam aus Danzig, der Vater aus Breslau, und so reiste der 1962 in Bad Godesberg geborene Biskup schon in den siebziger Jahren erstmals in den Ostblock: Willy Brandts Ostverträge ermöglichten es seinen Eltern, Verwandte und Freunde aufzusuchen, regelmäßig pendelte er zwischen den beiden Hemisphären des Kalten Kriegs hin und her. Mit 16 kam Biskup erstmals nach Ost-Berlin, eingeladen dazu hatte ihn die Post, bei der er eine Briefträger-Lehre absolvierte. „Hier entstanden meine ersten Aufnahmen aus dem Osten“, sagt der Autodidakt – ein Jahrzehnt später überstürzten sich die Ereignisse, und es sollte sich eine Flut weiterer Impressionen hinzugesellen.

Etwa die der Trabis, die im September 1989 als erste über die deutsch-österreichische Grenze in die bundesrepublikanische Freiheit tuckerten. Als ihn die Nachricht von der Grenzöffnung in Ungarn erreichte, befand sich Biskup, mittlerweile Geschichtsstudent und freier Fotograf, gerade auf einem CDU-Parteitag in Bremen. Sofort sprang er in einen Flieger nach München und bestellte einen Freund zum Flughafen, der ihn an die deutsch-österreichische Grenze bei Passau kutschierte. „Eine Revolution fand statt – wie hätte ich da noch Bilder von Kohl und der CDU in Bremen schießen können?“, so Biskup.

Als dann am 9. November die Mauer fiel, setzte er sich noch am selben Abend in Augsburg ins Auto, um 2 Uhr morgens stieg er in Berlin aus und knipste los. Keine Woche später zog Biskup nach Ost-Berlin um, um von dort aus mit seinem alten roten Mercedes-Kombi kreuz und quer durch die DDR zu ziehen. 100.000 Kilometer habe er in jenem Jahr verfahren und 1200 Filme verschossen. Wie beseelt von dem Wunsch, zu sammeln, den Wandel festzuhalten, sei er gewesen – ganz gleich, ob einer die Bilder nun kaufen wollte oder nicht. „Die Politik wurde auf der Straße gemacht“, sagt der 47-Jährige. „Man musste nur Nachrichten hören und losfahren!“

Trauer und Trotz, Leid und Lebenswillen

Und Biskup fuhr los. Nicht mehr nur nach Dresden oder Leipzig, sondern immer tiefer in den Wilden Osten hinein. Bald schmiss er das Geschichtsstudium, um die Perestroika, wie er sagt, „nicht zu analysieren, sondern am eigenen Leib zu erfahren“. Als Biskup im August 1991 im Radio von dem Putschversuch gegen Michail Gorbatschow erfuhr, ergatterte er sich beim Münchner Konsulat eine Einreisegenehmigung und flog nach Moskau. Der Aufstand selbst war vorbei – der Schock über die drei Todesopfer, aber auch die Euphorie der Menschen über den nahenden Zusammenbruch des Sowjetreiches, hielt an. Biskup hielt die widerstreitenden Stimmungen des Umbruchs, Trauer und Trotz, Leid und Lebenswillen, fest, ob in Russland, Rumänien, Mazedonien oder anderswo im Osten.

Mit ein paar Brocken Russisch, Polnisch und Serbokroatisch, vor allem jedoch immenser Leidenschaft ausgestattet, reiste er von Ort zu Ort, um das, wie er sagt, „Bild neben dem Bild festzuhalten, das Foto, das bis heute überlebt“ – weil es keine Jahreszahlen, sondern Schicksale dokumentiere. Menschen wie den Musiker Toca etwa, 24 Jahre alt, der im völlig zerstörten Mostar vor einem von Kugeln und Rost durchlöcherten Fiat-Wrack für ihn posierte. Oder die fünf jungen Kosovarinnen auf einem Schulfest in Prizren, mit Strumpfmasken über dem Kopf und Kalaschnikows in den Händen.

„Per Zufall kam ich an der Szenerie vorbei. Nach einem anfänglichen Schreck stellte ich fest, dass die Mädchen die Überfälle der serbischen Polizei spielerisch nachstellten und so ihr eigenes Trauma verarbeiteten“, sagt Biskup. Zu den von ihm dokumentierten Umbrüchen gehörte indes nicht nur das menschliche Leid, sondern auch die Invasion des Kapitalismus im Osten: ganz in Titan gewandete Models in Moskau, die Werbung für die erste Ausgabe des „Playboy“ in Kroatien, ein liegengebliebener Rolls-Royce vor der Schlossbrücke in St. Petersburg. Tür an Tür mit den Ärmsten der Armen wuchs die Kaste der Superreichen heran – auch das einer der von Biskup skizzierten „Wege der Freiheit“.

Drei Modern-Talking-Songs für 500 Dollar

2002, bereits jenseits der Dekade großer Umwälzungen im Osten, sollte Biskup diesem überbordenden Reichtum in seiner reinsten Form begegnen. Eine Zeitung hatte den mittlerweile gefragten Starfotografen nach St. Petersburg geschickt. Hier sollte er Dieter Bohlen porträtieren, der auf einer Privatparty drei Modern-Talking-Songs zum Besten gab. „Der Eintritt kostete 500 US-Dollar, ich traute meinen Augen nicht angesichts des unglaublichen Prunks“, sagt er. Biskup schoss das gewünschte Bohlen-Foto – und dokumentierte den Luxus-Wahn gleich mit.

Das so entstandene Foto einer blonden Schönheit, die in glitzernder Unterwäsche und Highheels über ein ausladendes Vorspeisenbuffet tänzelt, sollte zu einem der letzten Bilder werden, mit dem Biskup den Umbruch im Osten nachvollziehbar gemacht hat. Seit dem neuen Jahrtausend porträtiert der Fotograf vornehmlich die Entscheider und Geschichtsschreiber, die Schönen und Reichen seiner Zeit. Eine neue Ära habe begonnen, sagt er – für ihn ebenso wie für Osteuropa.

Seine Aufnahmen vom Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, schrieb der von Biskup vielfach abgelichtete Altkanzler Helmut Kohl einmal, seien vom „Geist der Freiheit“ inspiriert. „Wohl eher vom Mut der Menschen, die ich fotografiere“, kontert der Fotograf. Etwa dem Mut jenes bosnischen Mädels neben der umgestürzten Mülltonne in Sarajevo.

Zum Weiterlesen:

Daniel Biskup: „Wege der Freiheit. Die DDR, die Sowjetunion und Jugoslawien im Umbruch“. Collection Rolf Heyne, München 2010, 255 Seiten.

http://www.spiegel.de/einestages/starfotograf-daniel-biskup-a-946790.html